SPRECHENDE FIGUREN

 

 

Man hört es ja hin und wieder oder liest es im Interview, dass es Autoren gibt, die erzählen, ihre Figuren würden „mit ihnen sprechen“. Oder sie manchmal sogar instruieren, was „als Nächstes zu schreiben“ sei.

Früher hielt ich das für den Versuch, dem Job des Autoren etwas mehr Lametta zu verleihen.

Bis sie auch zu mir „sprachen“.

 

Ich möchte dem Umstand gerne die Mystik und Magie nehmen, weil keine kleinen Stimmen glockenhell in unseren Köpfen erklingen und selbst wenn es so wäre, kämen sie nicht aus dem Nichts, sondern wären der Lohn harter Arbeit.

 

Jeder Autor entwickelt seine Figuren individuell.

Die einen brauchen keine Viertelstunde, andere mühen sich Tage, bis sie mit Hilfe ihrer Phantasie aus einem unförmigen Block eine Figur im Rohzustand herausgemeißelt haben.

Und dann geht es an die Verfeinerungen.

Einige Kollegen überlegen, was ihre Figur, die in der Story vielleicht 50 Jahre alt ist, mit sieben Jahren für eine Schulnote in Sachkunde hatte, oder ob sie Götterspeise mochte und gestottert hat.

 

Ich versuche, sehr ökonomisch vorzugehen. Wenn es für eine Verhaltensweise oder eine Entscheidung im Drehbuch von Belang ist, was für eine Schulnote sie in Sachkunde hatte, dann ist es wichtig. Wenn nicht, ist es unnötiger Ballast.

 

So individuell die jeweilige Herangehensweise des Urhebers an sein Personal ist, so allgemein messbar ist die Figurentiefe, zu der er vorgedrungen ist. Ab einem gewissen Grad der Figurenentwicklung lässt sich glasklar und ohne Zweifel beantworten, wie die Figur in welcher Situation reagieren wird – dann haben wir so viel Mühe auf sie verwandt, dass sie mit uns „spricht“.

Das tut sie natürlich nicht wirklich, sondern die Charakterisierung, die man ihr als ihr „Schöpfer“ hat angedeihen lassen, beantwortet eindeutig, wie ihre Reaktion aussehen wird.

 

Figuren, die zu mir sprechen, sind kein paranormales Phänomen, sondern schlicht ein objektiver Gradmesser dafür, ob ich diesem Charakter die erforderliche Zeit, Aufmerksamkeit und Hingabe geschenkt habe oder nicht.

 

Daraus folgt: Figuren, die sich in einer beliebigen Situation nicht eindeutig verhalten, sind nicht komplett durchdacht.

 

Ich habe Figuren schon grob gemeißelt stehengelassen und mir gedacht: Kopf hoch, wird schon, du bist ohnehin nur eine Nebenfigur. Diese mangelnde Fürsorge rächt sich auf vielfältige Art. Und es ist erstens vom Arbeitsaufwand her ökonomischer und zweitens dem Charakter gegenüber auch respektvoller (so merkwürdig das klingen mag), ihn so fein zu zeichnen, wie man kann.

Er wird es einem ebenso „danken“, wie er zu einem „spricht“.